Zwanzigzehn

Ein zementär-revolutionärer Jahresrückblick

Wieder ist ein Jahr vorübergegangen – ein Jahrzehnt zugleich, die „Nuller Jahre“. Wir haben in den vergangenen zwölf Monaten beobachten können, wie sich die Politik Obamas entwickelte, wie Merkel aus Steinen frische Brötchen und die Polizei in Stuttgart aus Kastanien Pflastersteine machte, ja wir haben allerhand erlebt. Nichts neues, dafür aber immer wieder Bestätigungen jeder Art für eine interessante Entwicklung, nicht nur in Deutschland: Man spricht vom kalten Neoliberalismus und vom Wutbürger (nebenbei bemerkt das Wort des Jahres 2010). Letzteren konnten wir im vergangenen „heißen Herbst“ nicht nur auf Gleisen oder an Bäumen sehen. Er hat sein hässliches Gesicht in den Medien gezeigt und kräftig bei der Sarrazin-Debatte mitgemischt. Ich will hier nicht falsch verstanden werden und vorgeworfen bekommen, ich setzte den merklichen Aufschwung des europaweiten Rechtspopulismus mit den erstarkten kleinbürgerlichen Protesten gleich. Vielmehr muss die Ambivalenz des sogenannten Wutbürgers klargestellt werden – eine Ambivalenz, wie sie uns von den Grünen beispielhaft veranschaulicht wurde.

Die Grünen haben bei den Öko-Protesten in Stuttgart sowie an der Castor-Strecke natürlich haufenweise potentielle Wähler finden und einsammeln können. Der Wutbürger verlässt sich dabei auf das Hier und Jetzt, ohne die bisherige vermeintliche Stärke der Grünen genauer unter die Lupe zu nehmen. Diese bestand einst in einer Opposition, die nunmehr zu Austauschbarkeit, ja Opportunismus verkommen ist. Die Grünen machen’s mit jedem, das sagen viele, aber sie sind auch konsequent dem Ethos der parlamentarischen Politik verfallen. So kommt es, dass die Grünen Versprechen nicht nur nicht halten können, sondern es nicht einmal mehr wollen. Das grüne Image, das sie der Öffentlichkeit immer noch vorhalten, dient lediglich einem reinen Gewissen und als primitivster Wählermagnet.

So tut es auch der Wutbürger – er führt sein gepflegtes bürgerliches Leben mitsamt den in der Masse üblichen Vorurteilen, daheim einer klassischen Rollenverteilung, und so weiter. Geht er dann auf die Straße, kämpft er für große Ziele, die er sich unerhörterweise in den Kopf gesetzt hat. Wie passt das zusammen? Ganz einfach: Der Protest ist schick, das 68er-Gefühl irgendwie aufregend. Diese Mode mitzumachen ist ein leichtes, unter dieser Oberfläche zu denken aber unbequem und viel zu aufwändig. Also frisst man den Politikern, die sich dem Protest angeschlossen haben, aus der Hand und glaubt ihnen jedes Wort. Es ist erstaunlich, wie leicht es den Politikern gemacht wird – man kann ihnen ihren Populismus schon fast nicht mehr übel nehmen.

Alltagsrassismus ist trotzdem erlaubt

Wie verblendet eben genannte Bürger derweil trotzdem bleiben, erkennt man an der Argumentation rund um Sarrazins Äußerungen über Immigranten und „Menschen mit Migrationshintergrund“ in Deutschland. Sehr leidenschaftlich, zornig und eben wütend ging es da her – die meisten aber hielten die Klappe, weil sie sich nicht sicher waren, was sie dazu sagen sollten. Wenn dann in der BILD-Zeitung von Meinungsfreiheit die Rede ist, kann der Bürger nur nicken, denn das stimmt seinem Weltbild nach: Jeder müsse frei heraus sagen können, was er denkt. Das sei Freiheit. Und Freiheit sei ja sehr wichtig, alles andere sei Kommunismus. Und schließlich wisse der Sarrazin ja bestimmt, was er da von sich gebe – immerhin sei er ja Sozialdemokrat. Sozialdarwinismus ist diesem Bürger sowieso kein Begriff, Rassismus kommt nur von rechts, man selbst sei ja in der Mitte.

Und so hat sich in diesem Jahr eine neue Möglichkeit der Legitimierung von übelstem Rassismus etabliert. Sie geht einher mit der sozialen Abstumpfung, die, typisch deutsch, Resultat der Finanzkrise ist und damit des novellierten wirtschaftlichen Denkens in zwischenmenschlichen Zusammenhängen. Es ist vermehrt vom zu schützenden System, von der Sicherung der Nation die Rede, wenn Köhler wie Guttenberg angesichts massenhaft toter Afghanen von wirtschaftlichen Interessen sprechen. Wenn jede soziale Kürzung hingenommen wird. Wenn die Schule uns als Arbeitsmarktfaktor erzieht. Wenn kulturelle Einrichtungen draufgehen müssen, damit den großen Unternehmen geholfen wird. Wenn die Regierung jedwede Vernunft ignoriert, jede rationale Handlung ablehnt. Wenn Geld vor Glück geht. Wenn wieder alle davon überzeugt sind: Geht es der Wirtschaft gut, ist unser aller Wohlstand gesichert.

Homophobie findet neuen Anklang

Während in den USA klar für die Abschaffung der „Don’t ask, don’t tell“-Regelung im US-Militär abgestimmt wurde, nach der bislang bekennende Homosexuelle nicht in die Armee eintreten durften, geht es in Deutschland zum Jahresende deutlich in die entgegengesetzte Richtung: Homophobie ist wieder in. Im Oktober nahm Stefan Raab den Deutschen Comedypreis für seine Sendung „TV Total“ entgegen und sagte in seiner Dankesrede unter anderem: „Ich war selbst mal schwul. Bis mir die Ärzte geholfen haben.“ (Queer.de) Natürlich lachten alle, sie applaudierten auch, die braven Bürger. Hihihi, ist das witzig, man habe selbstverständlich nichts gegen Schwule, aber ein bisschen Spaß muss schließlich sein, das schade doch niemandem. Da interessiert es keine Sau mehr, dass in diesem Land vor noch gar nicht allzu langer Zeit Schwulen in KZs von „Ärzten geholfen“ wurde. Aber über KZs dürfen wir neuerdings auch wieder lachen, seit Provokationsnarzisst Broder es vorgemacht hat.

Im Dezember dann ließ die Berliner Zeitung es unkommentiert, als ihr Interviewpartner Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) erklärte, er könne sich nicht vorstellen, „dass sich Kinder wünschen, in einer homosexuellen Partnerschaft aufzuwachsen“. Ja, das hatten wir schon oft. Pünktlich zu Weihnachten muss die Union dann aber doch wieder ihre christlich-konservativen Wertevorstellungen raushängen lassen.

Dass der Wutbürger, der nach Basisdemokratie per Plebiszit strebt, durch sich selbst keineswegs der „Gutmensch“ (auch das ein Modewort von 2010) in Person ist, zeigte etwa der Volksentscheid zur Schulreform in Hamburg, bei dem vor allem das rechtskonservative Bildungsbürgertum der Blankeneser Elite mobil machte. Dieser schöne neue Protestschwung ist also mit Vorsicht zu genießen.

Dann war da ja noch…

Ich könnte jetzt noch etwas zur WikiLeaks-Debatte schreiben – was ich bisher erstaunlicherweise noch gar nicht getan habe -, oder mich mit den Terrorwarnungen und infolgedessen schwerbewaffneten Polizeibeamten an den Bahnhöfen und in den Bahnen auseinandersetzen. Doch das wäre zu viel. Und wir haben es doch schon so oft gehabt, es kann schließlich nicht oft genug zum Thema gemacht werden, was die Regierung in unseren Köpfen gesichert haben will: Jeder Moslem ist ein potentieller Terrorist, jeder Linke eine Gefahr für die Demokratie. Das ist simpel und tragbar, immerhin bestätigen es uns die vielen Statistiken, die der Staat so veröffentlicht, immer wieder.

Und selbst?

Ich muss die politische, wirtschaftliche und schließlich auch zwischenmenschliche Entwicklung in diesem Jahr in Deutschland mit Betrübnis zur Kenntnis nehmen. Nicht Bedauern, denn hier gibt es nichts, was ich bedauern könnte. Nicht Besorgnis, denn die käme längst zu spät. Das ist zwar alles sehr pessimistisch, sehr nihilistisch gesehen – aber da noch eine positive Perspektive zu erkennen, dürfte reichlich schwierig sein.

Im Zementblog hat sich das tägliche Schreiben eindeutig eingestellt, was wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht ist. Die Schule erfordert eine Abwertung der freizeitlichen Aktivitäten – das sollte in diesem Fall aber nicht allzu unerträglich sein. Allerdings muss ich zugeben, dass Artikelserien wie das Wort zum Alltag oder das Wortkonglomerat in den letzten beiden Monaten in ihrer Kontinuität stark nachgelassen haben. Deshalb möchte ich mich von derlei „Zwängen“, wenn man das so nennen kann, lösen und mich von einem festen Erscheinungsabstand beider Serien in Zukunft verabschieden. Ich hoffe, das könnt ihr verkraften – schließlich bleibt ja noch das Projekt 42, das weiterhin jeden Monatsanfang erscheinen wird.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Lesern bedanken, die immer mal wieder hier vorbeischauen und auch dann und wann einen Kommentar hinterlassen und so zu anregenden Diskussionen beitragen. Ich wünsche allen einen guten Rutsch ins neue Jahr und neue Jahrzehnt!

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Ein Kommentar

  1. Januar 2

    Ich wünsche dir auch ein frohes neues Jahr 2011 und ich bin gespannt was da kommt. Ich glaube, wir werden sehr viel zu schreiben haben ;-)

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