„Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“ Die Aktualität dieses pessimistischen Ausdrucks, der Lenin zugeschrieben wird, erweist sich derzeit einmal mehr: Ehe Deutsche nämlich einen Flughafen lahmlegen, denken sie an den Sommerurlaub auf Mallorca. Wenn sich dann auch noch, wie in diesem Fall, das Frankfurter Arbeitsgericht einmischt, werden die Fluglotsen plötzlich mucksmäuschenstill.
Zunächst hat die Gewerkschaft die „rechtswidrigen Forderungen“ zurückgezogen. Es folgten neuerliche Beratungen und die Überlegung, heute zu streiken. Auch das fand jedoch keine Umsetzung – stattdessen verlässt man sich nun auf ein Schlichtungsverfahren mit der Deutschen Flugsicherung (DFS). „Das große Chaos auf deutschen und europäischen Flughäfen“ sei damit „in letzter Minute abgewendet“ worden, so Berliner Morgenpost und Frankfurter Rundschau im Kanon.
Ich fasse noch einmal zusammen: Die Fluglotsen finden Arbeitsbedingungen und Gehalt scheiße (über letzteres lässt sich sicher streiten). Sie wollen streiken, lassen sich aber ohne weiteres zurückpfeifen. So oder so ist der Arbeitskampf aber eine legitime Praxis, um die Interessen der Arbeiter klar zu formulieren und deutlich zu machen. Was bleibt? Ein Beschwichtigungsverfahren erster Sahne, bei dem wohl kaum mehr als 10 Prozent der Forderungen durchgesetzt werden dürften; wenn überhaupt. Das Resultat wird ein besänftigender Kompromiss sein. Ist das die Zukunft? Tragen wir den Streik als Protestform zu Grabe? Was soll das?
Deutsches Phänomen?
Der Fachmann und Kenner wird die alte Weisheit auspacken, das sei beispielsweise in Frankreich ganz anders – dort sei etwa auch die Hemmschwelle zum gewaltsamen Streik oder zur Entführung des Vorgesetzten niedriger. Doch ist fehlender Schwung und erleichterte Ausbremsbarkeit außerparlamentarischer Forderungen tatsächlich ein deutsches Phänomen?
RP online beschreibt den Unterschied zwischen deutscher und französischer Streikkultur als den zwischen „zwei Welten“: Während es im revolutionengeprägten Nachbarland „anarchistische Proteste“ gebe, habe man es bei uns mit „zeitgenaue[n] Ankündigungen“ zu tun.
Es gibt jedoch auch Studien, die belegen, dass der Unterschied gar nicht so groß ist, wie wir ihn wahrnehmen – so etwa eine Analyse des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), in der die „Mär von der französischen Besonderheit“ statistisch entkräftet wird (Giraud 2010). Zusammenfassen heißt es darin, dass „die Streikbereitschaft in Frankreich […] lediglich im unteren Drittel des europäischen Durchschnitts“ liege. Streiks seien „in Frankreich zwar häufiger, doch von deutlich geringerem Ausmaß als beispielsweise in den nordeuropäischen Ländern“. Statistisch belegt der Autor, dass Länder wie Spanien, Italien, Österreich oder Norwegen europäische Vorreiter in Sachen Streikbereitschaft sind.
Den französischen Streiks wird offenbar unabhängig von ihrem Volumen ein hoher medialer Stellenwert zugerechnet. Ihre historische Rolle hat dabei mehr Gewicht als empirische Fakten, sodass ein durchaus verzerrtes Bild von der Realität entsteht. So kam die österreichische Zeitung Der Standard angesichts der massenhaften Streiks im letzten Jahr gegen Sarkozys Rentenreform zu dem Urteil, man könne „im internationalen Vergleich“ trotzdem „nicht von einer Streiknation sprechen“.
Welche Auswirkungen hat der Urlauber auf Streiks?
Angesichts der Tatsache, dass Deutschland auf genannter Statistik weiterhin ganze neun Plätze hinter Frankreich liegt und damit für Europa den drittletzten Platz belegt (es folgen mit geringem Abstand Litauen und Polen), liegt also durchaus immerhin eine deutsche „Besonderheit“ vor. Ganz besonders deutsch ist vor allem aber auch die Wahrnehmung des Streiks in der Öffentlichkeit. Wenn sich die Fluglotsen derart beschwichtigen und vom Streik abhalten lassen, dann hat das sicher etwas zu bedeuten. So ein Stillstand auf dem Flughafen ist natürlich kostspielig – vor allem aber unbequem für die Horde Pauschaltouristen, die täglich tsunamiartig über selbigen herfällt. Ein Artikel der Frankfurter Rundschau über die diesbezügliche Situation in Griechenland ist, sehr symbolisch und charakteristisch, mit der Frage überschrieben: „Welche Auswirkungen hat der Streik auf Urlauber?“
Foto: (cc by-nc-sa) mkorsakov / Flickr.
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