Dinge schön finden wollen

Freunde und Helfer in Kolumbien

Du kannst hier nicht mit „Ich weiss nicht“ antworten. Sowas gibt es in Kolumbien nicht.

So hat es mir juengst eine Schuelerin entgegengehalten, als ich ihr bei der Suche nach einem Lehrer nicht weiterhelfen konnte und schlicht „Ich weiss es nicht“ zurueckgegeben hatte. Recht hat sie: Wenn man in einer kolumbianischen Stadt jemanden nach dem Weg fragt, bekommt man immer eine Antwort. Die mag zwar voellig falsch sein – denn nicht immer weiss der gefragte Passant, was er da gerade ueberhaupt erzaehlt -, aber immerhin wird man bis zur naechsten Strassenecke zufriedengestellt und kann da wieder jemanden fragen.

Dieses scheinbar unbedeutende Alltagsphaenomen offenbart mehr ueber die kolumbianische Sozialarchitektur, als man zunaechst annehmen wuerde. Einige sagen: Die wollen das halt nicht zugeben, wenn sie keine Ahnung haben. Mein Eindruck ist allerdings, dass da etwas anderes hintersteckt – und zwar die mitunter wohl auch aus katholischen Moralkonzepten erwachsene Vorstellung, der Naechste muesse unter allen Umstaenden zufriedengestellt werden. Dieser Maxime werden offenbar viele andere Ueberlegungen untergeordnet: etwa die Richtigkeit einer Information, oder, um es etwas drastischer zum Ausdruck zu bringen, die Ehrlichkeit.

Zu viel des Guten?

Im selben Zusammenhang wird so auch der Sinn des taeglich vielfach wiederholten Mikrodialoges „Guten Tag, wie geht’s?“ – „Gut, danke“ ersichtlich. Einer nicht allzu vertrauten Person gegenueber moechte ich nicht antworten, es gehe mir schlecht (sollte das der Fall sein), da ich sie im weiteren Verlauf des Gespraeches ansonsten unmittelbar mit meinen persoenlichen Problemen belaestigen muesste. Der Hintergrund ist derselbe: Ich will mein Gegenueber, das sich ueber eine positiv ausfallende Antwort freuen wird, zufriedenstellen. Ja, ich kann dir weiterhelfen! oder Ja, mir geht es gut.

Als Deutscher in Kolumbien weiss man unter Umstaenden zunaechst nicht genau, was man von solcherlei Positivismus halten soll – einige halten das fuer „falsche Herzlichkeit“, andere interpretieren das sogar ganz nach dem Bild des scheinheilig-erzkatholischen Latinos, der sich am Freitag hacke saeuft und fremdgeht und das am Sonntag dann eben wegbetet.

Damit kommen wir zu einem aeusserst komplexen Umstand: Der kolumbianischen Froehlichkeit, vielfach missverstanden als Gluecklichkeit. So wurde Kolumbien zuletzt erneut mit dem Titel des „froehlichsten Landes der Welt“ versehen. Ueber den Wert solcherlei Statistiken braucht man nicht zu streiten – sie haben keinen. Dennoch darf man sich fragen, wieviel an dieser weitverbreiteten Wahrnehmung dran ist.

Toll tanzen und doof grinsen

Ein Tourist in Kolumbien erlebt viele gut gelaunte Menschen, die sich freuen, einem Auslaender einen Eindruck von ihrem Land mitzugeben. Ein Deutscher, der nicht tanzen kann, fuehlt sich ueberdies unglaublich ausgelassen, wenn er auf einmal mit der Huefte wackeln und eine huebsche Frau auf der Tanzflaeche herumwirbeln kann. Das alles gibt selbstverstaendlich den Eindruck, „die Kolumbianer“ seien „grundsaetzlich froehliche(re) Menschen“. Dass Tourismus jedoch alles andere wiedergibt als die Realitaet, duerfte inzwischen bei den meisten angekommen sein.

Doch auch die locker-lustige Sozialstruktur etwa in dem Dorf, in dem ich zurzeit lebe, bestaerkt das Bild vom locker-luftigen Latinoleben: Hier und da wird gegruesst, gequatscht, gelacht, werden sich die neuesten Dorfgeschichten erzaehlt. Wir duerfen vielleicht zweierlei behaupten: Erstens scheint die kolumbianische Kultur (sprich Musik, Tanz, regionale Eigenheiten, Traditionen) staerker erhalten und intensiver gelebt zu werden.

Zweitens herrscht hier womoeglich, aus unzaehligen Faktoren herruehrend, ein grundsaetzlich verschiedener Lebensentwurf vor, in dem der positive Austausch miteinander als Anregung der eigenen Lebensenergie viel staerker in den Vordergrund tritt. Dafuer ist der oben ausgefuehrte allgemeine Anspruch des Zufriedenstellens ein Beispiel von vielen. Fest steht, dass dadurch – wenn auch nur oberflaechlich – der positive Eindruck gerade fuer einen „kalten“ Europaer nur schwer wieder loszuwerden ist.

Sicher darf man dabei nicht vergessen, dass dieses Lebensgefuehl nicht darueber hinwegtaeuschen kann, dass in der kolumbianischen Gesellschaft einiges recht unlustig zugeht: Dass hier die Menschen nach sozialen Schichten von eins bis sechs eingeteilt werden; dass Rassismus, Sexismus und Homophobie groesstenteils unreflektierte Probleme darstellen; dass das Land bei arschkriecherischer Kollaboration des Praesidenten in menschenverachtendem Ausmass von EU und USA ausgebeutet wird – das alles und noch viel mehr ist scheisse hier. Dennoch ist es mir lieber, mir hilft jemand bei der Suche nach dem Weg weiter, als dass er mich mit einem bloeden „Keine Ahnung, frag den da“ stehenlaesst.

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Ein Kommentar

  1. Remco Eijking
    November 3

    No lo sé – kannst du, den ich frage, mir in meinem Land, wo alles unsicher, ausser die Unsicherheit, nicht ein Quentchen Hoffnung spenden. Meine Gebete werden nicht erhört, also bitte: Zünde mir ein Kerzchen zu Lebzeit. Und sage mir, wo die verdammte Straße ist. Gott wird dir vergelten.

    2000 Jahre lang war dies allerdings auch in Deutschland der Komment.
    Ehrlichkeit ist auch heute noch nicht allseits beliebt. Antworte mal eine Woche lang auf die Frage „wie geht’s“ mit: Scheisse.
    Man sackt auf der Beliebtheitsskala auf dem Niveau eines Politikers, der für die wirtschaftliche Entwicklung oder für die Erderwärmung schlechte Prognosen abgibt, ob sie nun richtig sind oder nicht.

    Es geht uns also gut.

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