Mehr als Koks und Kaffee

Erfahrungsbericht Kolumbien 2013/2014
Internationaler Jugendfreiwilligendienst mit AFS Interkulturelle Begegnungen e. V.

Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, wollte ich weg – Tapetenwechsel, „was Anderes erleben“, das Übliche. Wohin, war mir nicht besonders wichtig. Meine Hauptmotivation lag in der Idee, ein Sozialprojekt zu unterstützen – und zwar in einem mir völlig fremden kulturellen Kontext. Als dann bei meiner Bewerbung Kolumbien als Reiseziel herauskam, hörte sich das sofort exotisch und aufregend an.

Ende Februar 2013 saß ich dann mit einer Gruppe Freiwilliger im Flugzeug von Frankfurt nach Bogotá. Dort verging die Zeit schneller als erwartet: Zunächst erzählten wir uns alle ganz viel, bis es nichts mehr zu erzählen gab. Dann fingen die ersten an, zu schlafen. Dann schlief auch ich ein. Wachte auf, hörte Musik. Schlief wieder ein. Und plötzlich sahen wir Lichter in der Nacht unter uns. Es wurden mehr und immer mehr Lichter und wir begriffen: Das war Bogotá. Dort würden wir landen. Dort würden wir ein ganzes Jahr verbringen.

Land und Leute

Wenn man mich nach dem ersten Eindruck fragt, den ich von Kolumbien hatte, kann ich nicht nur eine Antwort geben. Mein allererster Gedanke, als ich aus dem Flieger stieg, war: Dann mal los. Der nächste Moment, an den ich mich erinnere, war der, in dem wir draußen bei den Taxis standen und eine rauchten. Da habe ich gedacht: Die Luft in den Anden ist ganz schön dünn. Dann waren die Leute von AFS da, holten uns ab, es wurde ganz viel geredet von allen Seiten; Lateinamerika war auf einmal eine laute, hektische Sache. Koffer wurden geschleppt, Rucksäcke auf die Sitze im Bus geworfen, alle unterhielten sich unruhig, alle waren völlig durch den Wind.

Ich fühlte mich betrunken, was sicherlich auch, aber nicht nur an den vielen Gratis-Schnäpsen im Flugzeug lag: Die Fahrt durch eine große, dunkle, alles verschlingende Stadt, das Gespräch mit der Schwedin, die uns empfing, die Verlorenheit im Klang der spanischen Sprache, die aus allen Ecken quillte – alles kam mir vor wie ein Rausch.

In den ersten Stunden, die sehr schnell zu Tagen wurden, kam mir alles, aber auch wirklich alles anders vor. Noch der Rasen im Garten des AFS-Büros hatte irgendetwas… anderes. Jede beliebige Sache hatte ihren Reiz dadurch, dass man sie immer mit ihrer deutschen Variante verglich und anschließend merkte: Das hier ist nicht Deutschland – du bist weit, weit weg. Das erste Frühstück: Süßer Frischkäse und Saft aus Tüten! Das erste Mittagessen: Reis, Fleisch, Bananen und Angst vor einer Magen-Darm-Verstimmung! Zwischendurch fettige Teigtaschen vom Straßenstand; was für ein Leben!

Und all das sollte zur Normalität werden. Das wechselhafte Wetter ohne Jahreszeiten, die quasseligen Radiosender, das Sportfernsehen mit seinen epileptischen Fußballkommentatoren, die frischen Säfte aus Früchten, von denen man nie zuvor gehört hatte. Nach einiger Zeit war es nichts Besonderes mehr für mich, zu allen Tageszeiten warm zu essen (und fast immer irgendwas mit Reis), das Toilettenpapier nicht ins WC sondern in einen Abfalleimer daneben zu werfen oder nachmittags Stunden im allzu spontanen Dorfleben mit Freunden und Freundesfreunden zu verbringen.

Dadurch, dass ich als Lehrer arbeitete, hatte ich in meiner Freizeit grundsätzlich kaum mit Gleichaltrigen oder gar Jüngeren zu tun. Die anderen Freiwilligen, die auch in meinem Alter waren, wurden zu guten Freunden, doch die meisten kolumbianischen Freunde waren älter als ich. Jedoch war es interessant zu beobachten, wie unbedeutend die Altersgrenzen in unserem sozialen Umfeld waren – ich kann aber nicht sagen, ob das einer spezifisch lateinamerikanischen Eigenheit des Zusammenlebens oder vielmehr dem Zufall verschuldet war.

Abgesehen davon lässt sich jedoch eine ganze Menge „spezifisch lateinamerikanischer Eigenheiten“ benennen, die sich im täglichen Miteinander wieder und wieder abzeichneten. Wenn wir an südamerikanische Lebenskultur denken, fallen uns schnell jede Menge vorurteilhafter Unterschiede ein – dabei berufen wir uns auf Informationen, die wir aus Filmen, Werbung und Tourismusbroschüren haben. „Der Latino“ ist für uns meist braun gebrannt, spontan, sexistisch und immer zu Scherzen aufgelegt. Außerdem kann er tanzen, kommt immer unpünktlich und nichts ist ihm fremder als nordeuropäische Attribute wie Verschlossenheit, Schüchternheit und Tagesplanung. Genauso ist zur Zeit etwa, im Zusammenhang mit der anstehenden Fußballweltmeisterschaft in Brasilien, überall die Rede von „heißen Tropennächten“, „Rhythmus im Blut“ und „exotischen Schönheiten“ – Phrasen, in denen nicht nur Reiselust, sondern durchaus auch positiver Rassismus anklingen.

Nachdem ich nun ein Jahr in Kolumbien gelebt habe, muss ich sagen: Viele dieser romantisierten Vorstellungen des südamerikanischen Lebensgefühls lassen sich bestätigen, vielen schulden wir „Gringos“ jedoch – angesichts der starken kulturellen Differenzen innerhalb des Landes – eine Entpauschalisierung. So musste ich lernen, dass viele Kolumbianer etwa die Abweichungen zwischen Bewohnern der subtropischen und tropischen Regionen (calentanos) und den Menschen, die in „tierra fría“, den kälteren Bergregionen des Landes, leben, immer wieder hervorheben: So seien die calentanos viel extrovertierter, bessere Tänzer und grundsätzlich gelassenere Menschen als die anderen. Ein ähnliches Schubladendenken wie in unserem Verhältnis zu „den Latinos“.

Nichtsdestotrotz ist meine persönliche Erfahrung von Unterschieden wie überraschenden Gemeinsamkeiten geprägt. Sehr wohl habe ich mich durch die vielfach erlebte Unverbindlichkeit menschlichen Zusammentreffens gefühlt – das, was wir „Unpünktlichkeit“ nennen (also negativ werten), hat sich in Kolumbien oft schlicht als planloseres, entspanntes In-den-Tag-Leben entpuppt. Was auf Andere chaotisch wirken mag, war für mich eine erholsame Distanzierung von deutschem Alltagskarrierismus.

Zudem hatten viele von uns Freiwilligen immer wieder den Eindruck, es sei dort um Einiges leichter gewesen, sich in bestehenden Freundeskreisen zu integrieren. Tatsächlich war ich beeindruckt davon, wie unkompliziert man Freunde machte und plötzlich nicht mehr als Fremder durch die Dorfstraßen lief, sondern in jedem Viertel irgendwen kannte. An dieser Leichtigkeit konnten wir Freiwillige uns allerdings manchmal auch stören: So leicht wie eine Freundschaft kam, so schwach war auch ihre Bindung. Auf dem Dorf waren die sozialen Strukturen dermaßen konservativ angelegt, dass an allererster Stelle immer die Familie stand – demzufolge hatte ein Bruder oder ein Cousin häufig einen weit höheren Stellenwert als ein guter Freund. So kam es, dass viele Freunde im Park sich zwar alle hermanos nannten, am Ende wirkliche Verantwortung aber nur für Familienmitglieder übernahmen. Auch hier kann man nicht verallgemeinern – hinzu kommt, dass man natürlich nicht erwarten kann, als „Dorfbewohner auf Zeit“ plötzlich Freundschaften fürs Leben zu finden.

Trotzdem sind, so selten sie auch gewesen sein mögen, sehr gute Freundschaften entstanden, die ich auch jetzt noch pflege. Durch sie habe ich – aus anderer Perspektive als mit der Gastfamilie – Gepflogenheiten und Verhaltensmuster, kurz: soziale Normen besser verstehen können. Das wurde erkennbar im schlichten Erlernen und Verstehen von Redewendungen und regionalen Sprachspezifika sowie in der schrittweisen Gewöhnung an kolumbianisches Alltagsleben.

Mir fielen außerdem überraschende Gemeinsamkeiten auf. Waren wir in diesem schwer zu beschreibenden Rausch des Neuen, Anderen angekommen, so merkte ich schließlich doch: So banal es auch klingen mag, doch am anderen Ende der Welt sind die Menschen, so verschieden ihr gesellschaftlicher Kontext auch ist, Menschen mit denselben Wünschen, Hoffnungen, Ängsten. Sie lösen ihre Probleme mit anderen Mitteln, sie beantworten ihre Fragen auf andere Weisen und sie sprechen eine andere Sprache – aber ich kann mit ihnen über dieselben Themen sprechen. Zwar konnten wir oft nicht über dieselben Witze lachen, aber wir haben in jedem Gespräch, bei jeder Reise, auf jeder Feier voneinander gelernt, wie unterschiedlich wir ticken und wie ähnlich wir uns doch sind.

Arbeitsplatz

Das soziale Projekt, in dem ich das gesamte Jahr über tätig war, hatte viele besondere Eigenschaften, die ich an dieser Stelle einmal erläutern möchte. Es handelte sich um eine sehr kleine, private Sekundärschule (unterrichtet wurden die Klassenstufen 6 bis 11) mit einem landwirtschaftlichen Schwerpunkt. Man kann sich diesen Fokus vorstellen wie bei einer Berufsschule: alle üblichen Fächer (Mathematik, Physik, Chemie, Spanisch, Englisch, Geschichte, Sozialkunde) wurden hier kombiniert mit gesonderten Fachrichtungen wie Landwirtschaft, Nachhaltigkeit, Angewandte Forschung usw. – außerdem waren die Schüler sämtlicher Stufen dazu verpflichtet, einen Teil der staatlich obligatorischen Sozialstunden auf der Finca abzuleisten. Bei diesem sehr starken Praxisanteil lernten sie nicht nur, wie man sich um die Tiere und den Garten auf dem Hof kümmert, sondern konstruierten Lawinenschutzvorrichtungen, bauten Unterstände für das Vieh, produzierten Dünger mithilfe von Regenwürmern, stellten Gewächshäuser aus Plastikflaschen zusammen und, und, und.
All diese Einzelheiten des Projektes lernte ich natürlich nicht auf einen Schlag kennen – ich bekam zu Beginn nur eine grobe Einführung, sodass ich mich aber auch nicht allzu verloren fühlte. Die Lehrerin, an deren Seite ich dann Englisch unterrichten sollte, war zufällig auch meine Gasttante und unmittelbare Nachbarin, sodass es nicht schwierig war, eine gute Beziehung zu ihr aufzubauen. Ein weiterer Vorteil war, dass ich, anders als viele andere Freiwillige, keine große Masse an Schülern zu unterrichten hatte – die Schule umfasste insgesamt nur etwa 140 Schülerinnen und Schüler. Das trug nicht unwesentlich dazu bei, dass ich nach einigen Wochen schon ungefähr wusste, mit wem ich es zu tun hatte.

Vor meiner Ankunft in Kolumbien war ich darüber informiert worden, ich solle Englisch und Musik unterrichten. Schon während meiner ersten Tage an der Schule ließ man mich jedoch wissen, dass das zweite Fach wohl eher Sport werden würde. Also ließ ich mich überraschen – und mir nichts, dir nichts war ich in der Routine: Montags bis donnerstags stand ich an der Seite meiner Gasttante im Englisch-Unterricht, freitags hatte ich zwei eigene Klassen in Sport zu unterrichten.
Was Vorbereitung oder Arbeitsanweisungen anging, hatte ich weder noch. Das störte mich aber nicht weiter – im Gegenteil. Es war eine ziemlich aufregende Sache, gleich ins kalte Wasser geschmissen zu werden. Auf Nachfrage erhielt ich einen Stundenplan, um nicht jeden Tag im Lehrerzimmer darauf zu warten, dass man mir sagte: „Jetzt musst du wieder!“ Meine Kollegin fragte mich häufig zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn, was wir heute machen sollten – irgendwann gewöhnte ich mich daran und machte die Unterrichtsvorbereitung einfach selbstständig am Vorabend. Genauso lief es mit Klausuren, Korrekturen und Noteneintragungen.
Am aufregendsten war es im Sportunterricht. Hier hatte ich überhaupt keine Anweisungen, musste aber von der zweiten Woche an als alleiniger Lehrer zwei Klassen unterrichten. Glücklicherweise gab es hier auf dem Areal der Schule allerdings zahlreiche Möglichkeiten für sportliche Aktivitäten: Einen großen Schotterplatz für Fußball und Übungen, einen Platz für Beach-Volleyball, einen Platz für „Micro“ (Fußball 5 gegen 5), ein Badminton-Feld und viele weitere freie Flächen für Übungen.
Nach einiger Zeit relativ planlosen Unterrichts begann ich, mir Pläne zu machen – so bereitete ich für meinen 6.-Klasse-Sportkurs ein spielerisches Konditionstraining vor, während ich das erste Halbjahr über mit der 9. Klasse ein Boxprojekt umsetzte.

Meine offizielle Anzahl fester Arbeitsstunden war sehr gering, was jedoch durch Einspringen in anderen Kursen, Korrigieren von Klausuren, Noteneintragungen sowie Unterrichtsvorbereitung ausgeglichen wurde. Auch gab es hin und wieder sonntägliche Elternversammlungen und diverse Schulfeste. Durch meinen Arbeitsweg von zehn Sekunden (ich wohnte mit der Familie auf der Finca der Schule) sind dabei jedoch keine größeren zusätzlichen Aufwendungen entstanden.

Insgesamt muss ich sagen, dass ich nie überfordert, selten unterfordert und im Durchschnitt relativ gleichmäßig ausgelastet war. Es gab Perioden, während derer ich etwas zu viel Freizeit hatte, allerdings hatte ich gleichzeitig immer die Möglichkeit, mich selbstständig einzubringen und meine Ideen angemessen umzusetzen. Dadurch, wie auch durch das besonders positive und herzliche Arbeitsklima, habe ich mich das gesamte Jahr über bei meiner Arbeit außerordentlich wohl und gut aufgenommen gefühlt.

Gastfamilie

Das Wunderbarste, Kostbarste und Schönste meines Jahres in Kolumbien war das, was in den südamerikanischen Gesellschaften so hoch geschätzt wird: die Familie. Meine Zeit dort wäre wohl kaum so prägend gewesen, hätte ich nicht ein solches Glück mit der Gastfamilie gehabt. Während ich von anderen Freiwilligen hörte, die mit ihren Gasteltern nicht zurecht kamen, sich mit Geschwistern stritten oder nach kurzer Zeit wechseln wollten, setzte ich mich dafür ein, zu bleiben.

Denn ursprünglich war die Familie R. R. nur meine „Willkommensfamilie“, sprich es war vorgesehen, dass ich nach den ersten drei Monaten in meine „richtige“ Gastfamilie wechselte. Als nach drei Monaten der Anruf kam, ich könne jetzt meine Sachen packen und umziehen, wurde ich richtig unruhig. Ich sprach mit meinem Gastvater und nach einem Telefonat jubelten wir: ich durfte bleiben.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem wir alle im AFS-Büro von einem Fuß auf den anderen traten – der Tag, an dem wir darauf warteten, dass unsere Gastfamilien uns abholten. Er fühlte sich an, als wäre er einer der nervösesten Momente meines Lebens (oder vielleicht war er das auch). Schließlich stieg ein kleiner, fröhlich grinsender Mann aus einem alten Lada aus, umarmte mich und sagte irgendwas mit „groß, groß, groß“ und „ich, Papa!“ – er erzählte noch viel mehr, doch ich verstand kein Wort. Wir stiegen ins Auto, wo ein jüngerer Mann, ein anderer Herr und ein kleiner Junge auf uns warteten – kurzum: Der Wagen hätte voller nicht sein können (stimmt nicht, wir sind später mal zu neunt darin gefahren!).
Die gesamte Fahrt über wurde gesabbelt – über eine Sache mit dem Verkehr, etwas mit Blumen und noch was über Kohle. Der andere Freiwillige, den wir im Auto mitnahmen (dessen Gastfamilie mit der meinen gut befreundet war), zückte sein Taschenwörterbuch und fügte einige Wörter zusammen: „Was ist die wichtigste Industrie hier?“ Alle freuten sich, lachten und das Spanisch flog uns nur so um die Ohren. Ich glaube, es ging dann wieder um Kohle und ein bisschen um Milch und sowas.

Das Einleben ist mir nicht schwer gefallen. Ich wurde Schritt für Schritt den wichtigsten Teilen der Familie vorgestellt: Ich hatte einen kleinen Bruder, der mit meinen Eltern und mir zuhause wohnte. Außerdem gab es einen Älteren, der in der Hauptstadt wohnte und arbeitete. Dann war da noch der älteste Bruder, der mit Frau und Kind im Dorf lebte. Mein Vater war Rektor der Schule, an der ich an der Seite meiner Tante arbeitete. Meine Mutter und mein ältester Bruder arbeiteten ebenfalls als Lehrer dort, während mein jüngster Bruder einer meiner Schüler in der Abschlussklasse war. An der Seite unseres Hauses in den Bergen lebten meine Tante mit ihrem Sohn und ein Onkel mit seinem Sohn.

Die gesamte Zeit über war ich also von der Familie umgeben: Ich lebte, arbeitete, aß, lachte, feierte, sah fern und trieb Sport mit ihnen. Ein mehr als radikaler Wechsel für mich, der ich kurz zuvor lediglich mit meiner Mutter gewohnt hatte. Ein Wechsel auch, der mich hätte überwältigen können – so hatte ich es mir zumindest ausgemalt –, das jedoch nicht tat, sondern mir im Gegenteil unglaublich gut tat. Es war eine beeindruckende Zeit, in der ich den Wert der Familie ganz neu kennenlernte. Wundervoll waren all die Momente, in denen ich die Liebe meiner Eltern spürte, in denen wir gemeinsam beteten (das mir als erklärtem Atheisten!), in denen wir bei Festen herumalberten und tanzten. Wundervoll das viele Geschichtenerzählen, das viele Lachen – jeden Tag lachen, jeden Tag sich gegenseitig auf den Arm nehmen.

Der Abschied von diesem regen, bunten Leben, den vielen Geschichten, die uns verbunden hatten, den Reisen, die wir gemeinsam unternommen hatten, war furchtbar. Natürlich hatte man das schon kommen sehen – was man liebt, will man nicht missen. Sich brutal dessen zu entreißen ist eigentlich entweder völlig dumm oder, wie in diesem Fall, „höhere Macht“. Im Flugzeug hat sich alles falsch angefühlt, wie ein schlechter Scherz. Scheiß höhere Macht.

Trotz alledem sind mir eine Familie und eine Heimat dort geblieben, von denen ich weiß, dass sie ewig dort bleiben werden.

Betreuung

Die Betreuung durch AFS in Kolumbien war teils sehr zufriedenstellend, teils enttäuschend. In Ubaté, dem Dorf, in welchem ich – wie drei Andere auch – lebte und arbeitete, gab es ein überraschend starkes und großes AFS-Komitee. Es gab relativ regelmäßige Treffen, jeder bekam eine Kontaktperson und konnte einen Sprachkurs besuchen, doch die Kommunikation ließ zu wünschen übrig. Manchmal wurde ich mit meiner Gastfamilie erst am Vorabend zu einem lange geplanten Treffen eingeladen, manchmal erhielten wir anderen längst bekannte Informationen sehr spät. Auch gab es einige Unklarheiten über Nutzen und Verteilung von Geldern oder zum Beispiel ein starkes Hinauszögern einer Schuld bei mir, die am Ende nie beglichen wurde.

Das nationale Komitee, zu dem wir durch die Nähe der Hauptstadt auch verstärkten Kontakt hatten, war hingegen hierarchisch so weit oben angelegt, dass es sich in überhaupt keine Angelegenheit einmischen konnte und nie „die nötige Befugnis“ besaß, irgendetwas zu ändern oder Kritik anzunehmen, anstatt sie glattzureden.

Ich habe an diversen Seminaren teilgenommen – nicht nur an den zugegebenermaßen inhaltlich recht dürftig ausgefallenen Pflichtseminaren (Welcome Stay, Midstay, End of Stay), sondern auch etwa an einem in Kooperation mit dem Ashoka-Netzwerk organisierten Workshop, aus dem ein zusätzliches Projekt für das Dorf hervorgegangen ist (was leider mangels größerer Finanzierungskapazitäten nur schwach vorangetrieben werden konnte).

Oben angedeutete potenzielle Konflikte wurden – wenn überhaupt – nur schwach ausgetragen, da wir (damit meine ich: meine Gastfamilie und ich) beim lokalen AFS-Komitee generell auf taube Ohren stießen. Entweder gab es immer eine plausible Erklärung für den jeweiligen Kritikpunkt, oder er wurde als unberechtigt abgetan. Das war mitunter sehr schade, da es auf nationalem Niveau durchaus auch Mitarbeiter oder Ehrenamtliche von AFS gab, die durchaus mit Kritik umgehen konnten und sich die Zeit dafür nahmen, sie anzuhören – nur „regeln“ konnten sie auch nichts.

Was waren das für Kritikpunkte? Im Vordergrund standen bereits erwähnte Kommunikationsmängel, darüber hinaus ist mir auch die finanzielle Intransparenz negativ aufgefallen. Damit war ich nicht der Einzige, ganz im Gegenteil stand die Mehrheit der Freiwilligengruppe diesen Punkten kritisch gegenüber. So ergab es sich, dass sich auf vehementes Einreden hin beim End of Stay-Seminar ein AFS-Mitarbeiter dazu bereit erklärte, uns die Finanzierungsmittel und -wege der Organisation grob offenzulegen. Das war hilfreich und sehr entgegenkommend, jedoch lagen am Ende fast sämtliche Probleme nicht bei AFS Kolumbien, sondern bei AFS Deutschland – ein wenig glaubwürdiges Resümee.

Sprache und Kommunikation

Während des gesamten Aufenthaltes in Kolumbien war die Verständigung in spanischer Sprache unabdingbar. In Anbetracht meiner kaum vorhandenen Kenntnisse diesbezüglich stellte das für mich zunächst ein gewisses Problem dar. So hatte ich lediglich zwei Monate vor Abreise damit begonnen, mir zumindest ein ungefähres Bild dieser Sprache zu machen, um nicht vor vollständig verschlossenen Türen zu landen.
Natürlich war es zu Beginn kein Leichtes, sich mit Händen und Füßen zu verständigen, doch gleichzeitig war es auch ein sehr lehrreiches Erlebnis, einen dermaßen unausweichlichen Lernprozess durchlaufen zu müssen. Nicht nur konnte ich auf diese Weise den Fortschritt beim Erlernen dieser – glücklicherweise – nicht ganz unverwandten Sprache unmittelbar wahrnehmen, sondern war die anfängliche Unbeholfenheit auch ein äußerst hilfreiches Instrument der Integration.

Die groben Grundlagen, Redewendungen und haufenweise Vokabeln verdanke ich vor allem meinem regelmäßigen Umfeld: Der Familie und dem Arbeitsplatz. Grammatikalische Strukturen, Syntax und Unregelmäßigkeiten brachte mir meine ausgezeichnete Spanisch-Lehrerin bei, die mir – wenn auch sporadisch – sehr guten Einzelunterricht gab.

Selbst die Lacher, für die ein solcher Unwissender täglich sorgte, haben mir es noch einfacher gemacht, mich als Lernender unterzuordnen und so in jedem sozialen Kontakt immer auch eine Art Lehrer zu sehen. Dabei hatte ich allerdings auch immer großes Glück mit den Reaktionen, denn fast alle halfen gerne und mit großer Motivation. Und bis zum Schluss meines Aufenthaltes gab es noch eine Redewendung, eine regionale Färbung, einen Wortwitz oder den Namen einer Frucht dazuzulernen.

Entwicklungspolitik

In entwicklungspolitischen Dimensionen über eine so persönliche, subjektiv prägende Erfahrung zu sprechen, ist immer auch ein schwieriges Abstrahieren. Für mich ist der Begriff „Entwicklungszusammenarbeit“ immer vor allem ein Euphemismus für die Legitimation von Ausbeutung gewesen. Das der ideelle Gedanke dahinter jedoch auch in einem sozialen Kontext verstanden werden kann, war mir bislang nicht in dieser Form klar gewesen.

Entwicklung ist an aller Debatte Ende nichts anderes als der Progress des sozioökonomischen Mittels eines Staates. Auf reale Werte übertragen können darunter Statusbefinden und Autokontextualisierung, also das prinzipielle Selbstverständnis einer Person begriffen werden. Diese Kategorien ließen sich im kolumbianischen Alltag ganz konkret beobachten – und zwar als greifbare Differenzen zum deutschen Standard.

Das Klassendenken war dort beispielsweise weiterhin ein bedeutsamer Faktor sozialen Einordnens – dieses hatte einen so starken Einfluss, dass man schon fast von einem lateinamerikanischen Kastensystem sprechen kann: Soziale Schichten sind in die Stufen 1 bis 6 eingeteilt, zwischen welchen Durchmischungen, Kontakte oder Überschneidungen kaum toleriert werden. Wenngleich sich dies nicht unbedingt auf faschistoide Weise äußert, sondern immer wieder subtil durchsickert, so ist es doch eine tragende Säule kolumbianischer Sozialkultur. Angesichts dieses Modells war es nicht selten ein kompliziertes Unterfangen, sich einzugewöhnen und dementsprechend authentische Kollaboration voranzubringen.

Vor diesem Hintergrund kann ich schwer sagen, ob eine solche Zusammenarbeit überhaupt jemals stattgefunden hat, denn – so hat es mir im Laufe des Jahres einmal ein dort bereits viele Jahre lebender Europäer erklärt –, „nach einem halben Jahr meinst du, Kolumbien mehr oder weniger verstanden zu haben. Nach einem ganzen Jahr weißt du gar nicht mehr, was du denken sollst – und nach zwei Jahren fühlst du dich so fremd wie am ersten Tag.“

In diesem Sinne: Ist globales Lernen überhaupt so möglich, wie wir es uns vorstellen? Sicher nicht in unbegrenztem Ausmaß – und vielleicht auch nicht so, wie es einmal gedacht war. Ich habe gelernt, meine Ansprüche an die Folgen meines Wirkens im Ausland stark zurückzunehmen. Globales Lernen bedeutet für mich also: Dein Umfeld wird sich inspirieren lassen können an dem Eindruck, den du ihnen von deinem kulturellen Hintergrund vermittelst. Du selbst kannst Einiges über dich selbst, dein Bild von der Fremde und deine eigenen Werte und Prinzipien lernen – du kannst deine eigene Kultur kennenlernen.

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