Was Nizza nicht mit Damaskus zu tun hat

Was am gestrigen Abend im schicken südfranzösischen Nizza während der Nationalfeierlichkeiten anlässlich des Jahrestags des Sturms auf die Bastille geschehen ist, ist ohne Frage erschreckend und unfassbar. Mehr als 80 Menschen sind bei dem bizarren Angriff eines einzelnen bewaffneten Mannes zu Tode gekommen, als dieser mit 50 km/h über knapp zwei Kilometer hinweg in die Menschenmenge fuhr. Nur wenige Stunden hatte Präsident Hollande den Notzustand des Landes aufgehoben, der in Reaktion auf die jüngsten terroristisch motivierten Anschläge erhoben worden war. Und nur wenige Stunden nach dem gestrigen Ereignis begeht Hollande einen weiteren provokativen Fehler: Ohne dass jegliche Details zum Täter bekannt sind, macht er den internationalen islamistischen Terrorismus für das Ereignis verantwortlich und kündigt „eine Verstärkung der französischen Aktivitäten im Irak und in Syrien“ an (Spiegel).

Es genügt eine kurze Einführung in die Politikwissenschaften, um sich mit dem Begriff des Terrorismus vertraut zu machen – und einen solchen Fehler zu vermeiden. Terrorismus ist ein taktisches Mittel, das bewusst auf eine Reaktion abzielt; eine, die von Schrecken, Angst und Kurzsichtigkeit geleitet ist und somit die Legitimität des Opfers unterhöhlt, bei gleichzeitiger Stärkung der Legitimität des Täters. Hollande hat mit seinem kindlich-verschreckten Verhalten bewiesen, dass er zum reaktionären Lager der französischen Politiklandschaft gehört und terroristischen Elementen gegenüber mit offenen Karten spielt.

Nun ist es aber im Falle von Nizza mehr als kurzsichtig, und mehr als unbegründet, eine Linie bis nach Damaskus zu ziehen – und das in aller Öffentlichkeit. Erstens ist nicht klar, ob es sich bei dem Attentäter von Nizza nicht schlichtweg um einen mörderischen Psychopathen handelt (wie etwa im Falle von, wir erinnern uns, Breivik). Zweitens mutet es schon beinahe rassistisch an, den tunesisch-staemmigen Täter ohne zu zögern mit dem IS in Verbindung zu bringen. Drittens, und das ist noch viel schlimmer, liefert (sollte es sich am Ende tatsächlich um einen terroristischen Anschlag handeln) Hollande schlicht und ergreifend ein neues Argument auf Seiten des IS: Vorurteil und reflexhafte militärische Offensive.

Ein weiteres Problem ist, dass solch pseudoanalytische Fast-Food-Kommentare in der Regel die bequemste und einfachste Art sind, mit Schrecken umzugehen und, soweit das geht, vollkommen surrealen Ereignissen Sinn zu geben. Daher rührt die allgemeine Bereitschaft in Westeuropa, ähnliche Schlüsse zu ziehen aus einem Vorfall, der noch nicht einmal 24 Stunden her ist. So kommentiert die Frankfurter Allgemeine etwa, es habe sich „an der Promenade des Anglais das Wunschdenken verflüchtigt, die islamistischen Angriffe mit vielen Toten würden auf die Hauptstadt […] konzentriert bleiben“ (FAZ). Angesichts der aktuellen Informationslage sind derlei Verknüpfungen jedoch nicht haltbar.

Wenn die französische Regierung voreilige Schlüsse dieser Art nicht unterbindet, wird sich die Polarisierung zwischen radikalem Islam und radikalem Westen nur zuspitzen. Unberechtigte, unangebrachte Hypothesen aus dem Munde eines Staatsoberhauptes sind Brennstoff und tragen, auch oder gerade während der Flüchtlingskrise, zusätzlich zur Politisierung des Anderen bei. Vorsichtiger Diskurs, wie ihn einige andere Regierungsmitglieder in weit reiferer Manier geübt haben, muss in Momenten wie diesem Vorrang haben.

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