„Sag es und wir sterben“

Vergangenen Freitagabend wurde die Türkei für einen Moment lang zurück ins Jahr 1980 geworfen: Ein plötzlicher Versuch, die Erdogan-Regierung via Militärputsch zu stürzen und, so ließen die Militärs es unmittelbar verlauten, der türkischen Demokratie wieder auf die Beine zu helfen, erschütterte das Land und die Region. Erhitzte politische Debatten drehen sich jetzt darum, wie es sein kann, dass der Putschversuch scheinbar so amateurhaft über die Bühne gebracht wurde und ebenso schnell verhindert werden konnte.

Als mit einem Mal strategische Punkte des Landes, so etwa die berühmte Bosporus-Brücke zwischen Europa und Asien in Istanbul, militärisch besetzt, das Staatsfernsehen unter Kontrolle gebracht und die Parlamentsbauten in Ankara attackiert wurden, brach zunächst Chaos aus. Das Militär kündigte an, die Regierung unter Kontrolle zu bringen und Erdogan zu stürzen. Dieser war währenddessen im Urlaub und hatte sein Hotel verlassen, bevor auch dieses von Kampffliegern angegriffen wurde. In einer hektischen Facetime-Nachricht, ausgestrahlt vom türkischen CNN, forderte er das türkische Volk dazu auf, sich nicht einschüchtern zu lassen und stattdessen zivile Präsenz auf den Straßen zu zeigen und das Land so zu verteidigen.

Am Folgetag kam ein gewohnt autoritärer Gegenschlag von Seiten Erdogans, dessen Polizei es über Nacht gelungen war, die verantwortlichen Soldaten zu entwaffnen und zu verhaften. Der Präsident war bei seiner Rückkehr nach Ankara unter lautstarkem Jubel seiner Anhänger mit hingebungsvollen Schlachtrufen wie „Sag es und wir sterben“ empfangen worden. Seine Antwort für die Putschisten: Eine Wiedereinführung der Todesstrafe sei in Überlegung; knapp 3000 Richter wurden entlassen; und der Mann hinter dem coup sei Gülen, islamistischer Kleriker im US-amerikanischen Exil.

Der Machiavelli vom Bosporus?

Nun hat sich von mehreren Seiten die Hypothese beliebt gemacht, Erdogan habe den Putsch in Wahrheit selbst inszeniert. Ob das nun mehr oder weniger wahrscheinlich ist, oder ob die Gülen-These näherliegt, wird sich wahrscheinlich nur schwer klären lassen. Eins jedoch liegt auf der Hand: Der Putschversuch ist in ungewohnt pfuschiger Manier vonstatten gegangen, ist das türkische Militär doch historisch recht geübt in Sachen coup d’état. Zugleich ist es verwunderlich, dass Erdogan so gut auf eine effektive Antwort vorbereitet gewesen schien – innerhalb von gut 48 Stunden mit knapp 3000 Namen für zu entlassende Richter (die zufällig weniger eng im Verband mit dem Regime standen) aufzuwarten, ist zum Beispiel erstaunlich schnell.

Es ist also, jenseits von zu Übertreibung und Schwarzmalerei neigenden Verschwörungstheorien, nicht abzuwenden, dass „gewisse Momente einer Inszenierung“ (Telepolis) Teil der jüngsten Entwicklungen in der Türkei waren. Telepolis schätzt in dem Sinne ein, dass Erdogan „die militärische Eskalation mit den weitgehend isolierten Gülen-Anhängern bewusst zugelassen haben“ könnte, „um einen neuen autoritären Schub in der Türkei entfachen zu können“ (ibid.). Einerseits also ein politischer Schachzug, der ganz im Einklang mit Erdogans sonst üblichem Kalkül steht. Andererseits hatte die sofortige zivile Mobilisierung zur Folge, dass das Ganze auch unmittelbar in die Hände des Erdogan’schen Populismus spielt – jetzt „können Muslimbrüder und befreundete Islamisten für sich beanspruchen, in der Nacht vom 15. Juli 2016 hätten sie die, nämlich ihre Demokratie in der Türkei gerettet“ (Jungle World).

Oft hilft es nicht, die Wer-Frage zu stellen: Mag sein, dass Erdogan der Puppenspieler und Fadenzieher hinter dem Putsch ist. Faktische Anhaltspunkte dafür gibt es aber nicht – und einen großen Unterschied macht es auch nicht. Die gegenwärtige Faktenlage lässt jedoch die Einschätzung zu, dass Erdogan ein Profiteur des gescheiterten coups ist, und zwar auf eine Weise, die in den Geschichtsbüchern noch ihresgleichen suchen wird. Der 15. Juli 2016 beschert Erdogan einen Hochsommer des Autoritarismus, ob das nun ihm selbst zuzuschreiben ist oder nicht.

 

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