Der Mensch, der nie krank wurde
Wer hat uns eigentlich vorgeschrieben, wir dürften niemals krank sein? Bei jeder Kleinigkeit sollen wir Tabletten, Tropfen, Pulver, Pillen zu uns nehmen, am besten schon vor dem nächsten kleinen Leiden. Schon fast eine gesellschaftliche Konvention ist es, worauf man sich da geeinigt hat, ein Mechanismus, über den sich die Pharmaindustrie mit hoher Wahrscheinlichkeit die Hände reibt. Wir entschuldigen diese Neigung zur Verantwortungsdelegation und zur Schwäche gerne mit Argumenten wie: „Ich kann mir Kopfschmerzen nicht leisten!“ (aber Aspirin), „Ich muss fit sein, um die Woche durchzustehen!“, und so fort. Allerdings kann es gut angehen, dass wir uns damit selbst belügen: Tatsächlich wirken wir auf diese Weise fleißig daran mit, uns zu Funktionsmaschinen zu degradieren.
Wirft man einen Blick auf immer wieder aufgefrischte Diskussionen um letztlich nur eines, und zwar die Suche nach dem Heilmittel gegen das Unheilbare, stößt man schnell an unveränderliche Grenzen. „Der Mensch ist Mensch“ und bleibt es auch, das hat schon Grönemeyer verstanden. Wenn es nach der modernen Forschung im Interesse des Kapitals geht, soll der Mensch aber mehr sein, schließlich ist er zu nichts anderem vorgesehen als der Schaffung von Mehrwert (oder der Provokation dieses Vorganges). Chemiker, Biologen und Mediziner machen sich deshalb weiterhin Gedanken darüber, wie sich unsere Lebensdauer möglichst ausdehnen lässt. Sollte das Fragen über Lobbyismus bei Rentenangelegenheiten aufwerfen? Nein, stattdessen sollte es jenseits ethischer Normen und Werte grundlegende Skepsis gegenüber physischem Perfektionismus erregen.
Alte Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Jeder kennt die unzaehligen Legenden, die von Unsterblichkeit erzaehlen. Jeder kennt einen dieser Filme, eins dieser Buecher, einen dieser Mythen. Man hatte einst klein angefangen, der goettlichen Macht entgegenzustreben – mit dem Fliegen. „Naeher zu Gott mit Aeroflott“, lautete denn die Devise, aber irgendwie hat es nicht geklappt: Ueber den Wolken ist nichts mit Freiheit, man kriegt bloss Druck auf den Ohren.
Unsere alte Sehnsucht nach Unsterblichkeit wird nicht aufhoeren, vielleicht gehoert sie schlicht zu den vielen Leidenschaften des Menschen. In diesem Sinn duerfen wir auch die gegenwaertige beinahe krankhafte Tendenz zu Vervollkommnung und perfekter Leistung verstehen. Auf der einen Seite kreieren die modernen Wissenschaften Theorien immer haeufiger mit dem Anspruch, lueckenlos zu sein. Dass das nicht moeglich ist, ohne Widersprueche kuenstlich zu eliminieren, wird grob uebergangen. Auf der anderen Seite versucht die Forschung, dem mit empirischen Belegen zu entsprechen – genauso duerftig, versteht sich. Kausalitaeten und Korrelationen werden verwechselt oder bewusst vertauscht; einzige Motivation ist die Schaffung des Besseren – die Wissenschaft ist derzeit unentwegt damit beschaeftigt, sich einen runterzuholen. Problem ist: Es gibt keinen Superlativ von „perfekt“.
Der Segen der Krankheit
Es duerften wohl vor allem die Bewohner jenes „entwickelten“ Teils unseres Planeten sein, die so schaendlicherweise um den Segen der Krankheit vergessen haben. Die laktoseintoleranten, risikopraeventivmedikamentalisierten Hypochonder und Neurotiker der hippen Grossstaedte wollen und duerfen nicht krank werden, um ueberhaupt gar keinen Preis. Bei Kopfschmerzen Aspirin, bei Aspirinresistenz (zu viel davon gefressen) Antibiotika – und wenn das auch nicht mehr wirkt, muss halt die Forschung was machen. Es koennte ja sein, dass eines Tages eine Kopfschmerzimpfung auf den Markt kaeme.
Wenn man eine verbesserte Lachssorte in den See wirft, kann man davon ausgehen, dass der See frueher oder spaeter im Arsch ist. Wenn man neuro- und evolutionsbiologische Erkenntnisse fuer pharmazeutischen Fortschritt und ein sich perpetuierendes Weltbild missbraucht, kann man davon ausgehen, dass unser Verstaendnis von Mensch und Wert des Menschen frueher oder spaeter genauso im Arsch ist.
Krankheit ist gut! Bei all den Tabletten und Kapseln und Spritzen und Pillen krieg ich wieder richtig Lust, mal ordentlich abzukotzen und tagelang mit Fieber im Bett zu liegen! Es ist doch nicht einzusehen, warum man sich, in der laecherlichen Illusion von Ultraimmunitaet, nicht auf sein eigenes Abwehrsystem verlassen sollte. Wir kriegen das in den meisten aller Faelle selbst hin! Nur durch diesen Mechanismus ueberhaupt kann sich unser Koerper ab und an selbst staerken und regenerieren. Bei all der Erschoepfung, die am Ende allen Arbeitsstrebens steht, sind wir geradezu dazu verpflichtet, uns wenigstens diesen Funken Natuerlichkeit zuzugestehen.
Forschung ist wichtig – aber wenn, dann richtig
Dies ist kein Plaedoyer gegen die Forschung. Dies ist ein Plaedoyer fuer die Forschung, denn Forschung ist wichtig – aber wenn, dann bitte richtig! Wenn ein Pharmakonzern einen Think Tank engagiert, Forschung in eine bestimmte Richtung zu betreiben, dann hat das meines Erachtens nicht das Geringste mit Wissenschaft zu tun. Das ist erstens Konsumentenmanipulation, zweitens Legitimierung von Schwachsinn und drittens Missbrauch der Forschungskraefte.
Es kann nicht angehen, dass heute hinter einem Grossteil der bestehenden Forschungsprojekte weniger die Motivation des wissensdurstigen Geistes steht als vielmehr der Anreiz des Pauschalvertrags mit der Industrie. Wenn Objektivitaet zum Verkauf steht, verliert sie ihren Wert. Was allerdings noch viel schlimmer daran ist, ist die damit einhergehende Verzerrung der wissenschaftlichen Ziele. Im uebergeordneten Kontext bedeutet das die Assimilation der eigentlichen, serioesen Wissenschaft an die verfaelschte, verkaeufliche Kopfkraft – ganz nach den Gesetzen des Marktes. Wer Erfolg will, macht seine Projektresultate reisserischer, attraktiver, preist sie an; ganz gleich, auf welchem Gebiet und egal, ob als direkter oder eben indirekter Handlanger der Industrie.
Muessen wir uns alle mit allem, was wir haben, der unsichtbaren Hand unterwerfen? Sicherlich nicht. Die Martlogik ist nichts weiter als Gruppenzwang – Mensch ist, wer den anderen sagt, dass sie im Unrecht sind, den kleinen Peter zu schlagen. In diesem Sinn duerfen wir auch den Heilungswahn in unserer Mitte kritisieren und, wo moeglich, zerschlagen: Moegt ihr mir noch so viele Praeparate, Operationsmethoden und Leckmichs unter die Nase halten – ich belasse es dabei, mich mit dem Leben zu beschaeftigen. Wozu in der Flucht vor dem echten Leben sterben, wenn wir auch ohne Angst unsere Gegenwart geniessen koennen? In Angst rennen macht muede. In Freude leben macht munter.
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