Weil der Kapitalismus seinem Ende nicht näher gekommen ist, sich aber trotzdem einiges verändert hat, mussten sich Bourgeois weltweit etwas neues einfallen lassen. Es sind viele Namen für dieses neue Gesicht in Umlauf gebracht worden: Generation Porno, Generation Facebook, Generation Fitness, Generation Öko. Andere bleiben einfach, ganz penetrant, bei dem verstaubten Wort Demokratie. Was ist es also, das die Besitzverhältnisse so nachhaltig in uns festgebrannt hat und sie uns, vielleicht mehr denn je, reproduzieren lässt? Eine neue Lektüre von Alexis de Tocqueville und Karl Marx könnte Aufschluss geben.
Zu viel Optimismus?
Der Mensch liebt Optimismus, und er ist womöglich eines seiner größten Verhängnisse: Ob im klassischen Liberalismus der Liebhaber des laissez faire oder in der bürgerlichen Gesellschaftskritik zu Zeiten der Französischen Revolution: Die Grundannahme der Perfektionierbarkeit menschlicher Eigenschaften und Beziehungen hat Wellen geschlagen. Wellen, denen Utopisten wie Rousseau mit seinem Ideal des Gesellschaftsvertrages neuen Anschwung gaben; Wellen aber auch, die bis ins Werk eines großen politischen Ökonomen wie Karl Marx schwappten. Im Kontext einer umfassenden Analyse der seinerzeit bestehenden Besitz-, Macht- und Klassenverhältnisse kommt dieser zu dem Schluss: Die Auflösung der Gegensätze ist ein notwendigerweise eintretendes Faktum. Der revolutionäre Charakter des sich immer stärker assoziierenden Proletariats wird unabwendbar das Ende des Kapitalismus einläuten.
Das ist, wie wir wissen, im prophezeiten Jahr 1848 weder in Deutschland, noch in Frankreich geschehen. Auch der autoritäre Ansatz leninistischer Strategie hat diese finale Erlösung der Geschichte nicht herbeigeführt, sondern dem ideologischen Gerüst des Kommunismus obendrein noch einen grausamen, traumatischen Anstrich verpasst. Nun zogen und ziehen die Herren des Westens den einigermaßen schwachsinnigen Schluss, die gesamte Theorie sei deshalb hinfällig. Das ist nicht der Fall, denn zwar sind die Erkenntnisse der Kritiker einem neoliberalen Demokraten hochgradig peinlich, doch ihr Wahrheitsgehalt hat sich bis zum heutigen Tag nicht verändert.
Die Aristokratie der Arbeit
Schon Tocqueville’s Werk „Demokratie in Amerika“, publiziert in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erlaubt einen überraschend modernen Einblick in die Demokratien unserer Zeit. Der französische Beobachter erklärt im Konzept der „Tyrannei der Mehrheit“ mit einigen wenigen Worten, inwieweit der so umjubelte Vormarsch der Demokratie aristokratische Verhältnisse wiederholt: Demnach findet die alleinherrschende Macht ihren neuartigen Ausdruck in dem Mehrheitsgedanken wieder. Die Mehrheit ist das demokratische Interesse, oder, wie wir es in Deutschland kennen, die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Sie regiert, Tocqueville zufolge, kaum weniger autoritär als ein König oder Kaiser. Allerdings ist aus physischer eine vielmehr psychische Unterdrückung geworden – du bist frei, zu tun und zu sagen, was du willst. Wenn du dich aber entgegen dem Gängigen verhältst, bist du ein Außenseiter. Aus Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird also Gruppenzwang.
Und wer macht den Trend? Tocqueville und Marx stimmen in diesem Punkt überein: Die wirtschaftlichen Verhältnisse. Besitz ist Macht, deshalb ist das „Interesse der Allgemeinheit“ nichts anderes als eine Stellvertretung der besitzenden Klasse. In den Worten von Tocqueville: Die Aristokratie im demokratischen System ist, stärker denn sonstwo, im modernen Arbeitsverhältnis zu finden – die extreme Reduziertheit des Arbeiters auf seine Arbeit (und nicht den Menschen, der er ist) macht Angestellte zu Schafen und Arbeitgeber zu Schäfern.
Wenn nicht so, wie dann?
Wenn also, um obenstehendes zu resümieren, Demokratie und individuelle Freiheit nicht miteinander vereinbar sind, weil Besitzverhältnisse Wähler zu Arbeitern und Konsumenten degradieren, was ist dann noch machbar? Marx sagt: Weg damit. Alle bestehenden Verhältnisse müssen gewaltsam umgestürzt, ins Gegenteil verkehrt und schließlich überwunden werden. Der Diktatur des Proletariats folgt die klassenlose Gesellschaft. Problem: Das hatten sich bürgerliche Liberale auch (so ähnlich) gedacht, als sie die Aristokratie bekämpften. Leider sind aus eben diesen Revolutionären die Herrscher unserer Zeit geworden; die Bourgeois.
Klar, Marx zufolge bewegt sich die Geschichte der Gesellschaften in einer sukzessiven Aufwärtsbewegung: Erst wird mit der Feudalherrschaft aufgeräumt, dann die Aristokratie abgeschafft, und schlussendlich die Bourgeoisie. Dummerweise hat nur letztere eine ganz besondere Eigenschaft errungen: Sie kleidet sich im Gewand der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Wie soll man einer aufreizenden Medusa widerstehen? Wie soll man ein niedliches Raubtier erlegen? Wie kann man einen Tyrannen stürzen, der nirgendwo und überall zugleich ist? Dieses Kostüm ist neu. Und es erweist sich noch immer als das erfolgreichere Modell. Es ist wie ein Apple-Gerät: Dir können noch so viele Menschen von den Selbstmorden der Fabrikarbeiter erzählen; du kaufst das Teil, denn a) jeder hat es und b) es ist einfach sowas von schick.
Die meisten von uns wissen, dass der Preis unserer Freiheit nichts anderes ist als die Unfreiheit aller anderen. Wir machen Fortschritt, weil andere Rückschritte machen. Wir werden immer perverser in unserer Hin- und Hergerissenheit: Wir finden Krieg doof, aber Waffenhandel richtig; wir finden Terrorismus furchtbar, aber Öl super; wir wollen frische Tomaten, aber bloß keine echten. Kurz: Wir wollen den Baum ohne die Blätter.
Universelle Entfremdung
Marx‘ Entfremdung des Arbeiters vom Produkt haben wir fortgetrieben: Wir projizieren unsere Persönlichkeit in virtuelle Müllhalden (erst Google, dann Facebook, dann Twitter, dann die Verhaltensstörung „Smartphone“); Menschen gehen in Fitnessstudios um auch das letzte Fünkchen Identität loszuwerden und selbst aus ihrem eigenen Körper ein Produkt zu machen. Ein Produkt dessen Wert die Nachfrage des Menschenmarktes bestimmt; ein Produkt, das wir bereit sind zu verkaufen. Die Lächerlichkeit dieses Ansatzes wird erst klar, wenn wir erstaunt feststellen, dass niemand bereit ist zu kaufen, wenn er nur noch damit beschäftigt ist, zu verkaufen.
Die neue Fratze der Bourgeoisie hat nichts mehr mit Nationalismus, Staat oder Regierung zu tun. Wir tragen sie selbst: Wir setzen morgens ihre Maske auf, wenn wir in die Schule, zur Universität oder zur Arbeit gehen. Und erst ganz spät abends, wenn wir allein sind und niemand uns sieht, trauen wir uns, sie abzulegen. Das Proletariat? Nicht mehr als ein Echo des Bourgeois. Der Klassenkampf? Ein aufgebrauchtes Märchen. Unsere Herausforderung ist es jetzt, ohne Ideale und ohne Optimismus Hoffnung zu schöpfen.
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