Zucker mit etwas Tee

Ein Jahr später: Rückblick auf Marokko

Vor beinahe genau einem Jahr bin ich von einem Auslandssemester in Marokko zurückgekehrt. Damals wollte ich unbedingt irgendetwas zu meiner Erfahrung schreiben, konnte aber beim besten Willen nicht die richtigen Worte dafür finden. Mein Aufenthalt in Marokko war eine intensive, aufregende, erlebnisreiche, teils vergnügte, teils hektische Zeit – und ganz sicher gab es viel zu berichten. Aber dieser Erfahrung mit bloßen Worten gerecht zu werden, das konnte ich mir nicht vorstellen. Wie sagt man, was man sich selbst noch nicht so richtig sagen kann? Welche Worte gebrauchen für etwas, dessen Sprache man nicht spricht? Welchen Namen geben den Erfahrungen, die sich außerhalb meines Vokabulars abspielen? Eine Möglichkeit gab es: Die Zeit verstreichen zu lassen – und das habe ich dann auch getan.

Jetzt, ein Jahr später, ist das Erlebnis nicht mehr frisch, und schon viele Male habe ich darüber gesprochen, die Geschichte viele Male neu erzählt, neu verwoben und neu konstruiert. Mit Sicherheit sind einige Aspekte bereits verloren gegangen (so wie ich mein Gedächtnis kenne – und nicht kenne), wohingegen andere womöglich neu aufgetaucht sind. Vor allem aber erinnere ich mich an eines: den Unterschied. Ein Unterschied, den ich nicht als „Kulturunterschied“ zusammenfassen und abstempeln möchte, denn das würde meinem Erlebnis nur teilweise gerecht, wenn überhaupt. Ein Unterschied, der sich als Diskussion, wenn nicht Disput mit mir selbst durch die gesamte Zeit die ich in Marokko verbracht habe gezogen hat.

Dasselbe, das Gleiche, und das Andere

Ich hatte vielleicht geglaubt, ich könnte in Marokko „den arabischen Sprachraum“ besser kennenlernen, oder auch einmal etwas von „der islamischen Welt“ erleben. Und ich habe es versucht: ich habe versucht, Arabisch zu lernen und den marokkanischen Dialekt Darija. Ich habe versucht, mich mit meinen (zugegebenermaßen wenigen) marokkanischen Freunden über unsere jeweiligen kulturellen und weltanschaulichen Selbstverständlichkeiten auszutauschen und diese unsichtbar zu machen indem wir sie sichtbar machten. Aber eines konnte ich nicht überbrücken: Den Abstand, der sich zwischen mir und Marokko auftat, jedes Mal wenn ein neuer Unterschied sichtbar wurde, den einer von uns beiden nicht akzeptieren wollte. Marokko war ein Geduldsspiel mit der Toleranz, und ich weiß nicht, ob ich es gewonnen habe.

Um es klarzustellen: Mein Aufenthalt in der marokkanischen Hauptstadt Rabat war eine großartige Zeit. Ich habe dort inspirierende Menschen kennengelernt, mich mit einer Umgebung vertraut machen dürfen, die mir auf den ersten Blick ganz und gar nicht vertraut war, und bin durch ein Land gereist, das vielseitiger und schöner kaum sein könnte. Dennoch war ein bleibender Eindruck im Nachhinein: Kenne ich Marokko jetzt? Habe ich irgendeine Ahnung? Und warum habe ich eigentlich geglaubt, ich würde zurückkommen mit einer solchen Ahnung? Kann ich mich mit einem Land innerhalb ein paar weniger Monate auch nur ansatzweise vertraut machen? Viel eher kam es mir nämlich so vor, als hätte ich mir lediglich die rhetorische Option ersteigert, zu behaupten dass ich Marokko kannte. Von einem tieferen Gefühl der Bekanntschaft war diese Option allerdings nicht begleitet.

Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass ich keine Brücke gebaut hatte, sondern eine Kluft größer geworden war. Ich hatte einen Unterschied kennengelernt, wollte ihn gerne in meine Arme schließen, musste aber feststellen, dass meine Arme nicht um Marokko herumreichen. Also hatte ich Marokko vor allem als „das Andere“ sichtbar gemacht, ich hatte für mich selbst mehr, statt weniger, Unterschied zum Vorschein gebracht. Ich hatte Marokko, durch was die angelsächsische Akademie „othering“ nennt, als das Andere kennengelernt, das heißt, ich hatte es nur im Unterschied zu dem mir bereits Vertrauten kennenlernen können. Mein Verständnis war begrenzt durch meine europäische, weiße, christlich geprägte Perspektive – und deshalb konnte sich das Andere mir nur in Beziehung zu diesem Verständnis offenbaren.

Wo sind die Palmen?

Einer der Momente, in denen mir dieses Verhältnis besonders auffiel, war jener, in dem ich mich dabei ertappte, ständig nach Palmen Ausschau zu halten. Dann behauptete ich eben, dass ich Palmen besonders mochte, und dass ich Fotos von Palmen sammle; aber war das wirklich so? Tatsächlichkeit und Behauptung, in diesem Zusammenhang, erweisen sich als besonders schwierig voneinander zu trennen. Wo waren also all die Palmen abgeblieben? Oder, in anderen Worten, wo war das Marokko von den Urlaubsfotos? Wo war die Exotik, die ich erhalten musste, damit ich das richtige Foto machen konnte? Wo der Zucker mit Tee, wo die Kamele, wo die Wüste, wo die Komplettverschleierten?

All diese Artefakte konnte ich natürlich finden; aber hatte ich jetzt einen Eindruck von Marokko bekommen an dem ich ein neues Bild festmachen konnte? Oder hatte ich eine Vorauswahl an Stereotypen getroffen, um ein altes Bild zu bestätigen? Ich konnte mir nicht sicher sein. Und kann es noch nicht: Habe ich Unterschiede entdeckt und mich ihnen bereitwillig geöffnet, oder habe ich Unterschiede hervorgehoben die sonst nicht im Zentrum des Bildes stehen würden, es aber tun, weil ich sie erwartet habe? Meine Erwartungshaltung hatte sich nach Couscous und gesehnt, und war enttäuscht dass es diesen nur freitags gab. Meine Erwartungshaltung hatte sich nach unglaublicher Hitze gesehnt, und war enttäuscht dass es ab und zu auch regnete. Marokko war viel zu echt.

Urlaubsfotos entwickeln lassen

Es dürfte jetzt, ein Jahr später, noch immer eine der Herausforderungen sein, die einem am meisten abfordern: Die Frage des Anderen. Man darf sich nicht nur fragen, was das Andere ist, und dann meinen, man kenne es, wenn man nur einmal genau hinsähe. Man muss sich auch fragen, was es bedeutet, etwas anders zu finden. Warum sehe ich einen Unterschied? Was mache ich aus dem Unterschied? Welche Konsequenzen hat es, diesen Unterschied hervorzuheben? Und wie wirken sich Unterschiede auf meine Beziehung zum Unterschiedenen aus? Wie auf mein Erlebnis des Unterschiedenen?

Man muss auch, auf welche Weise auch immer, Wege finden, die eigenen Urlaubsfotos entwickeln zu lassen und selbst zu entwickeln: Wie kann ich einen Eindruck aus seinem Rahmen lösen? Wie kann ich, mit anderen Worten, ein uneindeutiges Verstehen des Anderen zulassen und es damit weniger anders machen? Wie kann ich meinen eigenen Standpunkt in mein Verständnis einbringen? Wie kann ich es verhindern, meine Urlaubsfotos einfach an die Wand zu hängen und zu sagen: Guck mal, das ist Marokko. Die haben da Kamele und Palmen. Die sind ärmer da. Die essen Couscous.

Ich wüsste keine Antworten auf diese Fragen, aber ich finde es wichtig, sie zu stellen. Und das ist es vielleicht, was ich in Marokko kennengelernt habe: Das Problem des Unterschieds, in dem nicht der Unterschied das Problem ist, sondern meine Konstruktion des Unterschieds. Selbst wenn man glaubt, sich ganz nahe zu kommen, kann es sein, dass man sich eigentlich voneinander entfernt hat.

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