Hamburgs G20-Proteste: Zwischen Exorzismus und Selbstenthauptung
Es war wieder so weit, hätte man meinen können, für eine der regelmäßig wiederkehrenden Aufführungen des Hamburger Protesttheaters – man hätte meinen können, es würde wieder so ähnlich wie meistens ablaufen: Die allermeisten würden ihren Anspruch auf öffentliche Kundgebung ihrer Unzufriedenheit mit dem Zustand des status quo wahrnehmen, wohingegen ein paar wenige über die Stränge schlagen würden, woraufhin die Polizei die Legitimität der Gesamtheit des Protestes in Theorie wie in Praxis in Frage stellen würde. Ein geregelter Ablauf, ein beiderseits eingeplantes Kalkül, aber zumindest eben auch ein beiderseitiges Mindestmass an Respekt für die zur Verfügung stehenden Haupt- und Nebenrollen. Doch diesmal kam alles anders.
Akt I: Der Auftakt. Diesmal kam alles anders, denn im Auftakt hatte sich ein regelrechtes klassisches Sicherheitsdilemma, das sonst der Wettrüstung in den internationalen Abwehrbeziehungen vorbehalten ist, im Landesinneren (wenn nicht Stadtinneren) abgespielt. Die Medien spielten hier eine Schlüsselrolle, und werden sich in den kommenden Wochen wohl noch lange mit ihren nun nüchtern durch und durch reflektierten Kommentaren und Deutungsversuchen dafür entschuldigen. Das Sicherheitsdilemma besagt, dass die Angst vor dem Anderen so gewaltig ist, dass zwei (oder mehr) Parteien ein (verbales oder materielles) Aufrüstungspingpong zu spielen beginnen – ich rüste mich also aus Angst, während genau dies Verhalten die/den Andere/n dazu verleitet, sich ebenso aufzurüsten. Kurz gesagt, es ist dem Ganzen kein Ende in Sicht, nur exponentielle Eskalation. Die Medien sagen: Es wird brennen in Hamburg! (Extrawurst im Focus: Es wird einen Militäreinsatz geben!) Der Protest stellt sich darauf ein. Die Polizei stellt sich darauf ein. Die ganze Stadt stellt sich darauf ein. Und was passiert? Überraschung…
Akt II: Der Zusammentakt. Es kam alles anders, denn wirklich alles übertraf die sensationslustigen und sicherheitsparanoiden Erwartungen von Medien, Krawalltouristen und alarmbereiten Einwohnern. Es war nicht die Zerstörungswut in Hamburg, sondern vielleicht noch ein kleines bisschen Hamburg inmitten aller Zerstörungswut. Das Sicherheitsdilemma hatte sich in einen allseitigen Eifer um die Unsicherheit hyperventiliert. Das letzte Wochenende war allerdings, und da müssen wir uns mit den Live-Sendungen, in denen Beethovens Neunte in der Elbphilharmonie die Schattenschlacht ums Schulterblatt im split screen begleitete, uneinig sein, kein Protestwochenende. Es war auch kein Moment für die deutsche Linke, kein grosser Moment und kein kleiner Moment. Es war ein Exorzismus der Stadt Hamburg (‚welcome to hell‘), in dem die Unversöhnlichkeit von Merkels Aussen- mit ihrer Innenpolitik den Teufel auf die Strassen getrieben hat. Der Kontrast zwischen den apolitischen Spätpubertisten, die ihrem (sehr mehrheitlich) Testosteron-geladenen Radikalmaskulinismus in Hamburgs Strassen allzu freien Lauf liessen, und den dem Papier nach politischen Un-Verantwortlichen, die dank schalldichter Wände von Kongresszentrum wie Konzertgebäude nicht einmal dem Schmetterlingseffekt nach auch nur irgendetwas in der Welt verändert haben, ist a) auf den TV-Schirm absolut nicht beschränkt, aber b) eigentlich gar nicht so gross wie er scheinen mag.
Akt III: Der Nachtakt. Es kam alles anders, und das liegt nicht nur an einem vergleichsweisen Übermass an Gewalt, an einem völligen In-den-Hintergrund-Treten des eigentlichen Protestes und einer weiteren Bekräftigung des europäischen Rechtsrucks. Es liegt auch, oder zumindest dürfen wir das innerhalb der ersten 48 Stunden post factum vielleicht vermuten (ich bitte hiermit um die Erlaubnis), an dem vollkommen ungebändigten Drang zur ausserpolitischen Gewalttat. Da kann man so viel message hineinlesen, wie man will; so viel Umsicht mit der eigentlichen politischen Bewegung, die dem G20-Gipfel eine kritische Botschaft mitzuteilen beabsichtigte; so viel Sympathien (die ich durchaus habe) mit einem aktionistischen Beweggrund, seine Anklagen auf die Strasse zu führen und tatkräftig sowie kreativ zu untermauern: Aus der Dystopie wird kein Utopist schlau. Und die kann ihr/ihm andererseits auch niemand nachsagen.
Einige Implikationen für mögliche Folgeakte:
- Unverhandelbar ist es, dass wir ausgebrannte Autos in deutlichem Abstand von linker Politik diskutieren.
- ‚Die Medien‘ (und ich pauschalisiere das in diesem Kontext sehr gerne) haben Eskalationsdynamik mitzuverantworten – auch, wenn nicht ganz besonders, in diesem Fall.
- Konsumkritik und Diebstahl sind zwei völlig unterschiedliche Ansätze, wenn auch beide zur selben Straftat führen können.
Wenn eines fest steht, dann dass dies eine Ode an die Freude jedenfalls nicht war. Ganz im Gegenteil, es war ein Schattenspiel in dem alles nur A oder B ist, in der Demenz übersehend, dass die Welt keine Scheibe mit zwei Seiten ist.
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