Unterricht im kolumbianischen Andenhochland
Als Lehrer in Kolumbien zu arbeiten, ist spannend nicht nur, weil ich im Vorjahr selbst noch Schüler war. Es ist spannend, weil Schule, Erziehung und Bildung hier im Norden Südamerikas etwas völlig Anderes sind als bei uns im reichen Teil Europas. Ich kann zwar nur für einen winzigen Teil der Andenregion nördlich der Hauptstadt Bogotá sprechen – an der Pazifikküste, in den westlichen Kordilleren, im Grasland, im Dschungel oder an der Karibik wird sicher eine andere Geschichte zu erzählen sein – dennoch will ich meine Perspektive des letzten halben Jahres als Englisch- und Sportlehrer einmal etwas ausführlicher schildern.
Wie stellen wir uns eine Schule vor? Als Lernstätte, einen exklusiv der Erziehung und Bildung unserer Kinder und Jugendlichen gewidmeten Raum. Hier soll nicht bloß Wissen vermittelt werden, hier sollen auch die Werte menschlichen Zusammenlebens anerzogen werden: Gerechtigkeit, Solidarität, Disziplin. Die Schule ist eine grundsätzlich autoritäre Institution. Das vergessen wir häufig, bloß weil der Rohrstock abgeschafft wurde.
Disziplin: Prinzip oder Praxis?
Heute sagt man von deutschen Schülern der Mittel- und Oberschicht, sie besäßen eine disziplinierte Lernhaltung ohne dass man sie die Schullaufbahn hindurch hätte knechten müssen. In Kolumbien verhält sich das anders herum: „Disziplin“ wird als oberstes Prinzip herausgeschrien, das Gegenteil ist der Alltag.
Ich erinnere mich an den Englischunterricht in Deutschland: Solange wir still saßen, war der Lehrer freundlich. Sobald ihn etwas störte, wurde er ein anderer Mensch, schlug mit dem Buch auf den Tisch und blaffte uns ins Gewissen – dann war gut. Dergleichen werde ich hier wohl kaum jemals erleben. Einerseits wird der Schulhof in den Anden manchmal zum Appellplatz und die Kinder stehen in Reih und Glied zu Befehl, wenn der Rektor spricht. Andererseits sind meine Schüler nicht pünktlich, sie hören mir nicht zu wenn sie nicht wollen, sie verlassen das Klassenzimmer bei Bedarf, sie setzen sich selten auf ihren Platz. Die Herausforderung ist also nicht der Lehrinhalt, sondern der Kampf um Respekt.
Respekt ist hier jedoch nicht die einem Lehrer anhaftende Aura – ein Lehrer ist hier, das ist gewollter pädagogischer Ansatz, näher am Schüler: Er wird mit Vornamen angesprochen und muss sich aus eigenem Antrieb in den Klassenverband integrieren. Respekt gewinne ich also vor allem durch soziale Anerkennung, kaum durch autoritäre Kontrolle (bei den unteren Klassenstufen kann die gute alte Standpauke allerdings durchaus noch Wirkung zeigen).
Morgengebet im Lehrerzimmer
Ein anderer, nicht zu vergessender Aspekt kolumbianischer Erziehungsmethodik ist der Katholizismus. Das war die vielleicht stärkste Veränderung für mich als nicht ansatzweise religiösem Menschen. An der Schule, an der ich hier arbeite, wird morgens im Lehrerzimmer ein Gebet gesprochen, anschließend eines in jedem einzelnen Klassenzimmer. Etwa einmal im Monat kommt es überdies vor, dass wir mit der gesamten Schule in den Gottesdienst gehen.
Abgesehen davon wird der katholische Glaube in moralischen wie wissenschaftlichen Zusammenhängen sichtbar: Die Kinder lernen so etwa Sex als etwas Gefährliches kennen und lesen die Entstehungsgeschichte in der Bibel nach. Homosexuelle, so meinen viele zu wissen, sind tragisch Erkrankte, die die kolumbianische Familienkonzeption zersetzen wollen.
Des weiteren ist die Arbeitskultur im Lehrerkollegium von einer spannenden Einstellung geprägt. Die Organisation besteht zum größten Teil aus Spontanität, die sich in willkürlich veränderbaren Stundenplänen und völliger Unabhängigkeit von der Uhrzeit ausdrückt: Wenn ich gerade in einem bedeutungslosen Gespräch mit meinen Kollegen bin und mich dabei köstlich amüsiere, habe ich geradezu ein Recht darauf, zu spät in meiner Stunde zu erscheinen.
Lehren ohne Plan geht auch
In Bezug auf die Verwaltung der Lehrinhalte kann ich nur bemerken, dass ich bis heute keinen Lehrplan gesehen, geschweige denn etwas davon gehört habe. Ich muss zugeben, deutsch genug zu sein, dass ich mir kurzerhand einen eigenen Plan geschrieben habe, um mit dieser zunächst als Unordnung empfundenen Handhabung zurechtzukommen.
Doch ich will mich mit diesen Schilderungen nicht beklagen, denn die Schule, an der ich arbeite, ist ein wunderbares Projekt mit einer außerordentlich progressiven Philosophie. Die Schüler gewinnen hier unbezahlbare praktische Fähigkeiten in der unmittelbaren Arbeit auf dem Land: Hier wird wirklich geackert, und zwar buchstäblich. Die Jungen und Mädchen hier werden keine Anwälte und keine Philosophen – dafür wissen sie im Gegensatz zu uns, wie man Kartoffeln erntet und wie man eine Kuh melkt.
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