Die neue Wahl der Qual

Neues Wahlrecht in Hamburg

Schilder und große Plakate versprechen dem Betrachter das Blaue vom Himmel, die lokalen Zeitungen und Radiosender sind voll von Meldungen über Politiker und Parteien, kurzum: der Wahlkampf ist da. Am 20. Februar finden in Hamburg die Bürgerschaftswahlen statt, nachdem GRÜNE/GAL die Koalition mit der CDU aufgelöst hatte. Zum letzten Mal werden gleichzeitig auch die Bezirksversammlungen gewählt.
Nach aktuellen Umfragen stehen die Chancen für die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Olaf Scholz, der bereits für eine rot-grüne Koalition plädiert hat, derzeit am besten. Mit einem gewissen Abstand folgen CDU und GRÜNE/GAL sowie die beiden Schlusslichter DIE LINKE und FDP.

Doch eins hat sich entscheidend geändert: Das Wahlrecht. Nach einem erfolgreichen Volksbegehren des Vereins „Mehr Demokratie Hamburg e. V.“ im Jahr 2009 übernahm die Hamburgische Bürgerschaft dessen Vorschlag, eine ganz neue Form der Mitbestimmung umzusetzen. So hat jeder Hamburger bei den kommenden Wahlen nicht nur eine, sondern gleich fünf Stimmen. Nein, eigentlich zehn. Also insgesamt zwanzig. Oder so ähnlich. Klar, dass sich die Mehrheit der Hamburger Bürgerinnen und Bürger mit dieser neuen Freiheit nicht vertraut fühlt (ARD). Daran hat auch die knallbunte Informationskampagne der Hansestadt nichts geändert.

Ein einziger Kreuzzug

Wie funktioniert das neue Wahlrecht nun also? Jeder Wähler hat fünf Stimmen für die KandidatInnen auf der Landesliste einer Partei. Fünf weitere Stimmen gibt er den KandidatInnen der Wahlkreisliste für die Bürgerschaft. Da zeitgleich mit den Bürgerschaftswahlen auch die Bezirksversammlungen gewählt werden, gilt dasselbe Verfahren nun auch hier: Fünf Stimmen auf der Bezirksliste, fünf weitere Stimmen auf der Wahlkreisliste für die Bezirksversammlung. Summa summarum hat jeder Wähler also zwei mal zwei mal fünf – sprich: zwanzig – Stimmen.

Oben: Viele Kreuze auf einem Haufen (kumulieren); unten: Kreuzchen machen, wo man will (panaschieren).

Er hat dabei die Möglichkeit, seine Stimmen bei einem Kandidaten zu kumulieren, also zu häufen, oder sie auf mehrere KandidatInnen zu panaschieren, also zu verteilen (s. Abb.).

Bei der Zusammensetzung der neuen Bürgerschaft kommen zuerst die WahlkreiskandidatInnen mit 71 Sitzen zum Zuge, dann die LandeslistenkandidatInnen mit den übrigen 50 Sitzen der insgesamt 121.

Welche freiheitlich demokratischen Errungenschaften bringt dieses veränderte Wahlrecht, wie es in anderen Bundesländern schon länger umgesetzt wird, mit sich? Man könnte nun leicht mit einer Ausdehnung der Rechtes auf Mitbestimmung argumentieren, zumal jeder Wähler seine Stimmen gewichten und im Detail direkt an seine favorisierten KandidatInnen abgeben kann. Das mag stimmen – nur stellt sich doch die Frage, ob jeder Wähler jeden Kandidaten kennt. Haben Sie schon mal etwas von Andreas Waldowsky (GRÜNE/GAL) oder Petra Wichmann-Reiß (FDP) gehört? Ich nicht. Und da hilft mir die neue Zwanzig-Stimmen-Freiheit auch nicht weiter.

Freiheit, die niemand braucht

Stattdessen fällt das Wahlrecht durch neue Nachteile negativ auf: Da wäre an allererster Stelle die Unübersichtlichkeit und Umständlichkeit der geänderten Regelung. Haben Sie bei der Wahl noch im Kopf, was ich Ihnen gerade erklärt habe? Und werden Sie Lust haben, einen 65 Seiten starken sogenannten „Stimmzettel“ durchzuarbeiten, um schließlich zwanzig Kreise anzukreuzen? Es ist fraglich, welchen Zweck diese Art der Mitbestimmung noch erfüllt. Die unverhältnismäßige Papierverschwendung sei dabei noch nicht einmal als gewichtiger Kritikpunkt angeführt. Stattdessen muss man sich Gedanken darüber machen, ob das Wahlsystem, mit dem sich am 20. Februar die Hamburger BürgerInnen herumschlagen müssen, nicht etwa die Wahlbeteiligung erheblich zu senken imstande ist – so macht es die Wahl doch verstärkt vom Bildungsgrad des Wählenden abhängig. Überdies wird der Aufwand bei der Verwaltung, aber auch der Auszählung dieser Wahl immense Ausmaße annehmen. Und zu guter Letzt, als Sahnehäubchen sozusagen, könnte die Angabe des Berufes des jeweiligen Kandidaten zur Ausgrenzung von Angehörigen bestimmter gesellschaftlicher Schichten führen.

Alles in allem bleibt nicht viel vom neuen Wahlrecht in Hamburg. Wer weiß – vielleicht gehen bloß zwanzig Prozent, und zwar nur wohlhabende, gebildete Menschen, überhaupt wählen? Dann hätte die Abschreckung hervorragend funktioniert. Ist das die Demokratie, von der man immer spricht? Darauf kann ich getrost verzichten. Ich will nicht ins Detail gehen müssen, ich will nicht ellenlange Tabellen durchgehen müssen und ich will auch nicht zwanzig Kreuze machen müssen. Ich will einfach nur wählen. Was ist das für eine Wahl? Was ist das für eine lächerliche Mitbestimmung? Werden wir als nächstes die Kugelschreiber der Mitglieder der Bürgerschaft wählen können?

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Ein Kommentar

  1. Februar 11

    Darüber hatte ich auch schon nachgedacht.

    Auf die Wahlbeteiligung bin ich auch mal gespannt. ;-)

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